Die eigene Wahrnehmung der Zeit

– Ihr habt ja Uhren in jedem Raum!
Tatsächlich, bis auf die Speisekammer, hat jeder Raum bei uns eine eigene Uhr.
In der Küche sind es sogar zwei, wenn man das rote digitale Flüstern des Herdes betrachtet. Was macht Zeit mit uns? Sie umhüllt uns schon immer (mehr als uns das lieb ist), aber darüber zu schreiben, fühlt sich banal an. Fast so banal, wie es mit Uhren zu illustrieren. Wahrscheinlich hat jede und jeder von uns eine eigene Wahrnehmung der Zeit.

Altmodische Uhr restauriert auf dem Bücherregal eigene Wahrnehmung der Zeit

(Scroll down down down for the English summary)

Jedes Mal in der Nacht vom 31.12. auf 1.1. macht die Jahreszahl Klick. Die (normale…) Zeit ist dann mit, manchmal leicht wackeligen, Wünschen und Umarmungen im Chaos der pfeifenden und knallenden Geräusche gefüllt. SMSe und Anrufe, falls man durchkommt und es ist plötzlich zwanzig Minuten nach Null. Über mehrere Jahre habe ich versucht, diese ersten Minuten wahrzunehmen, auf die Uhr zu schauen, nie ist es mir gelungen, ich vermute die Uhren springen einfach auf 0:20 und vorher zeigen sie nichts, das ist ihre Art zu feiern.

Die Zeitumstellung ist auch so eine Sache – vielleicht wird sie bald abgeschafft, so dass zukünftige Generationen gar nicht verstehen werden, was ich hier schreibe. Anyway. Unsere Uhren werden zum Glück von meinem Freund betreut, da kann ich sicher sein, dass nichts schiefgeht. Was kann dabei schiefgehen? Vor Jahren habe ich mich geärgert, dass die Straßenbahn nicht einmal diese kleine Veränderung reibungslos hinbekommt, alles kommt verspätet und es herrscht Anarchie, die Stadt ist gelähmt und nicht mal die Vorlesungen waren pünktlich. Bis ich gecheckt habe, wie meine Zeitumstellung aussah. Anstelle der ganzen Stunde hatte ich auf meiner Uhr aus irgendeinem Grund nur circa 17 Minuten übersprungen.

Uhr im Atelier zwischen Spiegel und Radierung mit Hund
Alte Radierung: Wilhelm Bolde

Die Wahrnehmung der Zeit, wenn auch sicherlich individuell, hat gewisse Gemeinsamkeiten, das kennen wir: Spannende Zeit vergeht schneller und öde zieht sich, so kommen Begriffe “kurzweilig” und “langweilig” zustande. Die Erinnerungen daran wirken dann umgekehrt, aufgrund der Menge an gespeicherten Details.
Ich kann mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen, dass die Zeit am langsamsten fließt in der Minute, die sich die Waschmaschine nimmt, um die Tür zu öffnen. Wer also sehr lange leben möchte, sollte seine Zeit vor der runden Ladeluke verbringen.
Kleine runde schwarzweiße Uhr im Badezimmer

Das Aufstehen scheint sich gerne an volle Stunden zu richten, also wenn ich wach bin, sagen wir mal, vier Minuten vor neun, werde ich garantiert bis Punkt neun abwarten. Dass ich um 8.56 aufgestanden bin, ist glaub’ich noch nie passiert. Im größeren Maßstab passiert es auch, wenn man denkt, das und das werde ich ab einem bestimmten Moment machen, wenn ich einen Garten habe oder wenn ich umgezogen bin, oder wenn die Antwort kommt und so weiter.

Und das hier und jetzt? Angeblich dauert es circa drei Sekunden. Wie macht man es also, im hier und jetzt zu leben?

Meine Zeit klebt an Sachen und bestrahlt sie mit ihrer Qualität. Zum Beispiel, ich lege ein Solitaire auf dem Tisch und höre eine bewegende Sendung im Radio. Beim nächsten Mal, wenn ich die Spielkarten in die Hand nehme, bin ich geistig wieder in der Sendung von damals drin. Geht es Euch auch so?
Antiker Junghans Wecker zwanziger Jahre in einer Vitrine mit Gläsern
Die Armbanduhren werden nur selten getragen, ich selbst habe jetzt lieber freie Handgelenke und obwohl ich meine Uhr sehr gerne tragen würde, lasse ich es meistens. Früher war das ein Gegenstand, auf den man mehrmals am Tag geschaut hat. War es aber bewusst? Ich fand es immer verblüffend, wie die Aufgabe einer Aufnahmeprüfung (Zeichnen aus dem Gedächtnis), die „zeichne deine Armbanduhr“ lautete, eine völlige Katastrophe war. Leute hatten nicht einmal die Sicherheit, ob sie Zahlen oder nur Striche auf ihrem Zifferblatt hatten. Das war ein deutliches Zeichen, wie oberflächlich man das betrachtet, im Bruchteil einer Sekunde die Uhrzeit ablesen, fertig.

Die Bruchteile der Sekunde werden jetzt Bildern gewidmet, deren Schleife auf den Bildschirmen vor unseren Augen schimmert, Moment mal, was habe ich gerade auf Instagram geliked? Was war in diesem Zimmer, an dem mir das ganze Arrangement der Farben und Oberflächen gefiel, aber wie hing der Vorhang hinter dem Sessel?
Vintage-look cremefarbene Küchenuhr auf der Wand
Ich will mich gezielt bei interessanten Inhalten länger aufhalten, Fragen stellen, forschen und Zusammenhänge erkennen. Nehmen Sie sich Zeit – ein Dialog aus einem Film, in dem jemand konzentriert eine Entscheidung treffen soll. Konzentriert bedeutet nicht ständig abgelenkt, nicht süchtig nach schneller und weiter.

Ich merke, dass es einer Überwindung bedarf, mich auf Inhalte einzulassen, die meine Zeit nehmen werden. Ein Buch, ein Video, ein Gespräch. Ich werde also zeitgeizig? Ich will meine Zeit nicht in etwas investieren und es später bereuen, obwohl auch das zum Erfahrungsschatz gehört. Immer wichtiger ist es für mich, meine Zeit gut zu nutzen, an Ende des Tages ein gutes Gefühl zu haben. Denn, wie jemand sagte – wir haben nur Zeit, sonst nichts.

In der Vergangenheit zu leben ist es angeblich so, wie beim Autofahren nur in den Rückspiegel zu schauen. Hat was, oder? Aber die Vergangenheit haben wir alle und auch die Methoden, sich darin zu orientieren. Wenn ich meine alten Fotos sehe, helfen mir manchmal Klamotten bei der Bestimmung der Zeit. Nach dem Motto, hier trage ich diese Jacke, die ich von X gekriegt habe, also musste es nach dem Urlaub mit X gewesen sein.

Porzellandosen, eine quadratische Wanduhr und ein Hundeportrait
Hundeportrait: “dox”, Christiane Mauthe

Ich bin fasziniert von den Bezügen zur Vergangenheit, die man haben kann, zum Beispiel an Geburtstagen der Verstorbenen zu zählen, wie alt die- oder derjenige geworden wäre. Daran musste ich neulich denken, als mein Papa 90 geworden wäre, dort wo er ist zählt man vielleicht weiter? Und wenn ich mir vorstelle, was in seiner tatsächlichen Zeitspanne alles passiert ist, wie sich die Welt verändert hat, wird mir schwindlig.

Die Schnelllebigkeit unserer Gegenwart ist auf so vielen Ebenen sichtbar. Ich versuche die Entschleunigung überall zuzulassen, wo es geht. In dem ganzen Chaos meine eigene Zeit zu steuern, wie ich sie nach meinen Bedingungen haben will und nicht ihre Geisel zu werden.

Danke, dass Du Dir für diesen Artikel Zeit genommen hast…

Digitales Display der Uhr von einem Herd

ENGLISH SUMMARY: One’s own perception of time
– You have clocks in every room!
In fact, except for the pantry, every room in our house has its own clock. In the kitchen, there are even two, considering the red digital whispering of the cooker display. What does time do to us? Time has always enveloped us (even more than we’d like it), but writing about it feels banal. Almost as banal as illustrating it with clocks. Probably each and every one of us has our own attitude to time.
On the night of December 31th. to January 1st. comes the moment when the year number changes with a click. In normal times, this time is filled with sometimes slightly tipsy wishes and hugs amidst the chaos of whistling and blasting noises. Text messages and phone calls if you can get through and it’s suddenly twenty minutes past midnight. For several years I have tried to notice those first minutes, to look at the clock, never succeeding, I guess the clocks just jump to 0:20 and before that they show nothing, it’s their way of celebrating.
The time change is also one of those things – maybe it will be abolished soon, so future generations won’t even understand what I’m writing here. Anyway. Luckily our clocks are looked after by my boyfriend, so I can be sure that nothing will go wrong. What could go wrong? Years ago I was annoyed that the tram couldn’t even manage this small change smoothly, everything came late and there was anarchy, the city was paralysed and not even the lectures were on time. Until I checked what my time change was. Instead of the full hour, for some reason I had only skipped about 17 minutes on my watch.
The perception of time, although certainly individual, has certain things in common for all of us: exciting time passes more quickly and dull time drags on. The memories of it then have the opposite effect, due to the amount of details stored in the memory. I can say with scientific certainty that time flows slowest the minute the washing machine takes to open the door. So if you want to live a very long life, you should spend your time in front of the round loading hatch.
Getting up seems to like to stick to full hours, so if I’m awake at, say, four minutes to nine, I’m guaranteed to wait until nine sharp. Getting up at 8.56 has never happened before, I believe. On a larger scale, it also happens when you think, this or that I’ll do at a certain moment, when I have a garden, or when I’ve moved, or when the answer comes, and so on.
But what about here and now? Apparently it takes about three seconds. So how do you do it, living in here and now?
My time sticks to things and irradiates them with its quality. For example, I lay a solitaire on the table and listen to a moving programme on the radio. The next time I pick up the playing cards, I’m mentally back in the programme from back then. Do you feel the same way?
The wristwatches are rarely worn, I myself prefer to have free wrists now and although I would love to wear my watch, I usually don’t. It used to be an object you looked at several times a day. Was it conscious though? I always found it amazing how the task of an entrance exam (drawing from memory) which was “draw your wristwatch” turned out to be a complete disaster. People weren’t even sure if they had figures or just strokes on their dial. That was a clear sign of how superficial people were looking at it, read off the time in a fraction of a second, done.
The fractions of a second are now devoted to images whose loop shimmers on the screens before our eyes, wait a minute, what did I just like on Instagram? What was in that room where I liked the whole arrangement of colours and finishes, but how was the curtain hanging behind the armchair?
I want to linger specifically on interesting content for longer, ask questions, explore and discover contexts. Take your time – a dialogue from a film in which someone is supposed to make a decision in a concentrated way. Concentrated means not constantly distracted, not addicted to moving faster and further all the time.
I realise that it takes an effort to engage with content that will take my time. A book, a video, a conversation. So I’m becoming time-stingy? I don’t want to invest my time in something and regret it later, although that is also part of the experience. More and more important for me is to use my time well, to have a good feeling at the end of the day. Because, as someone said – we only have time, nothing else.
Living in the past can be compared to looking only in the rear-view mirror when driving a car. There’s something to it, isn’t there? But we all have the past and also the methods to orient ourselves in it. When I look at my old photos, sometimes clothes help me determine the time. For instance here I am wearing this jacket I got from X, so it must have been after my holiday with X.
I’m fascinated by the references to the past that one can have, for example counting on birthdays of the people who died how old they would have been. I was thinking about that the other day when my dad would have turned 90, maybe they continue to count where he now is? And when I imagine all that has happened in his actual time span, how the world has changed, it makes me dizzy.
The fast pace of our present is visible on so many levels. I try to allow deceleration everywhere I can. To control my own time in all the chaos, how I want it to be on my terms and not become hostage to it.
Thank you for taking the time to read this article…

2 Gedanken zu „Die eigene Wahrnehmung der Zeit

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