Minimalismus und Wirklichkeit

Wie sieht es mit Minimalismus und Wirklichkeit aus, passen sie überhaupt zusammen? Die als minimalistisch bezeichneten Interieurs, die in Einrichtungsmagazinen oder im Netz zu sehen sind, finde ich klasse. Die leere Fußbodenfläche, die man gut betrachten kann, Sitzgelegenheiten am kargen Tisch, Hi-Tech Kloster mit ausgewogenen drei – vier Hinguckern, bloß nicht zu unruhig.
Mich beschäftigt nur die Frage, was macht man denn da so?

Illustration Stoffcollage mit einem Bild und Sessel, Minimalismus und Wirkichkeit

(Scroll down down down for the English summary)

Sitzen. Mit Freunden sitzen (ääähm in normalen Zeiten). Mit einem Laptop. Mit einem Buch. Meditieren. Vielleicht ein Körbchen mit einer angefangenen Strickarbeit hinstellen und stricken. Oder eine Socke stopfen. Pilates. Beide Pflanzen auf der Fensterbank versorgen. Warten, dass ein Team von einem Trendmagazin zum Fotoshooting vorbei kommt.

Das ist nicht bissig gemeint, wenn es auch so klingen mag. Ich komme aus einem Elternhaus, wo ich kein eigenes Zimmer hatte, deshalb habe ich mich ständig mit provisorischen Konstruktionen von der Familie zumindest optisch abgeschirmt. Das resultierte wahrscheinlich damals in meiner Entscheidung, Architektur zu studieren. Ich kenne das nur so, dass man Sachen macht, erfindet, repariert, Zusammenhänge schafft und wieder umbaut. Das ist eine von den Eigenschaften, die mich ausmachen. Zumindest für hier und jetzt.
Minimalismus Illustration Tisch und Vasen
Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich tatsächlich von einer Wohnung fasziniert, die so gut wie leer war: 20er Jahre Mehrfamilienhaus, in dem Zimmer nur ein Tisch und eine Lampe, im Stil von oder sogar original Kaiser Idell, simple 50er Jahre Sessel, etwas an der Wand und Fischgrätenparkett. Das war kein Plan, sondern eine frisch geerbte Wohnung. Ob sie bis heute so luftig geblieben ist? Damals (90er…) hat mich diese Geräumigkeit umgehauen.
Ich habe sie mit einer Freiheit verbunden, alles offen!

Ich kenne auch heute solche Wohnungen, aber meistens ist da irgendwo ein Zimmerchen versteckt, wo das wahre Leben spukt: Ein Arbeitszimmer. Kaskaden von Regalen und Boxen und Schachteln und Büchern und Ordnern… Und ich denke, es ist völlig okay so.

Die Wahl eigener Umgebung ist meiner Meinung nach essentiell dafür, dass es uns – ganz platt formuliert – gut geht. Jedem für sich. In guten wie in schlechten Zeiten.
Minimalismus Illustration Zimmer mit Bilderrahmen und Lampe
Die Zeit, die zu Hause verbracht wird, offenbart Bedürfnisse oder erzwingt neue Nutzung. Plötzlich erfüllt eine Wohnung mehrere neue Funktionen auf einmal.
Unsere Räume sind zusammen mit uns im Wandel, sie reflektieren unser Leben. Auch wenn sie dazu gezwungen sind, weil wir spontan Homeoffice arrangieren müssen.

Möglicherweise werden sich einige Menschen nach der Pandemiezeit zu Hause dafür entscheiden, mehr Funktionen in ihre Interieurs einzubauen. Und darunter auch solche, die nicht unbedingt digitaler Natur sind. So könnten immer mehr autarke Wohnsituationen entstehen, die uns bei der Entfaltung unterstützen, was auch immer wir zu Hause machen wollen. Ich bin da vielleicht eine Ausnahme, denn nicht nur ein Werkzeugkasten ist mir wichtig, auch nötige Vorräte an Material, Reste von Projekten jeder Art, die nur warten, wieder verwendet zu werden. Das hilft wirklich, wenn eine gewisse Basis da ist und es muss nicht sehnsüchtig in Richtung vom geschlossenen Baumarkt geschaut werden, wenn eine Schraube fehlt. Das gilt genauso für Stoffe, Wolle, Papier…

Die letzte Zeit ist sehr durch digitale Kontakte und Tätigkeiten geprägt und ich glaube fest daran, dass etwas Haptisches, Erlebbares wirklich wichtig ist.
Es würde mich sehr interessieren, wie sich die Wohnungen tatsächlich im letzten Jahr verändert haben. Irgendwann werde ich auch die, von denen ich nur gehört habe, live erleben – klug unterteilte Wohnungen unserer Freunde in Berlin, wo jeder, Klein und Groß, eine gute Ecke für sich haben und sogar eine Tür hinter sich schließen kann. Darauf bin ich sehr gespannt.
Habt ihr auch solche Beispiele der Veränderungen? Etwas, von den provisorischen Lockdown-Lösungen, was danach bleiben darf?
Minimalismus und Wirklichkeit Stoffcollage Fenster, Bilderrahmen und Tisch

ENGLISH SUMMARY: Minimalism and reality

I love the interiors described as minimalist that can be seen in interior design magazines or on the web. Empty floor space that is easy to look at, seating at a sparse table, hi-tech monastery cells with a balanced three to four eye-catchers, not too messy please.
The only question on my mind is, what can you do there?
Sitting. Sitting with friends (ahem, in normal times). With a laptop. With a book. Meditating. Maybe knitting. Or darning a sock. Pilates. Caring for both plants on the windowsill. Waiting for a team from a trend magazine to come by for a photo shoot.
I don’t mean that in a snarky way, although it may sound like that. I come from a parental home where I didn’t have a room of my own, so I was constantly shielding myself from the family, at least visually, with makeshift constructions. That probably resulted in my decision to study architecture back then. I only know it as making things, inventing, repairing, creating contexts and rebuilding again. That’s one of the qualities that define me. At least for here and now.
When I first saw it, I was actually fascinated by a flat that was as good as empty: a twenties‘ apartment building, in the room only a table and a lamp, in the style of or even original Kaiser Idell, simple fifties armchairs, something on the wall and herringbone parquet. This was not a plan, but a freshly inherited flat of someone I knew. I wonder if it has remained so airy to this day? Back then (nineties…) I was blown away by this spaciousness.
I associated it with a freedom, everything open!
I know flats like that today too, but usually there’s a little room hidden away somewhere where real life haunts: a study. Cascades of shelves and boxes and books and folders… And I think it’s perfectly okay that way.
Choosing our own environment is, in my opinion, essential for us to be – to put it bluntly – well. To each his own. For better or for worse.
Time spent at home reveals needs or forces new uses. Suddenly a home fulfills several new functions at once. Our spaces are in flux along with us, reflecting our lives. Even if they are forced to do so because we have to arrange home offices spontaneously.
Possibly, after the pandemic period at home, some people will choose to add more functions to their interiors. Also those not necessarily digital in nature. This could lead to more and more self-sufficient living situations that support us in doing whatever we want to do at home. I am perhaps an exception to this, because it is not only a toolbox that is important to me, but also necessary stocks of materials, leftovers from projects of all kinds that are just waiting to be used again. It really helps when there is a certain basis and there is no need to look longingly in the direction of the closed DIY store when a screw is missing. It’s the same with fabrics, wool, paper…
The last time is very much dominated by digital contacts and activities and I firmly believe that something haptic, tangible is really important.
I would be very interested to see how homes have actually changed over the last year. At some point I will also experience live the ones I’ve only heard about – cleverly subdivided flats of our friends in Berlin, where everyone, young and old, can have a good corner to themselves and even close a door behind them. I am very curious about that.
Do you also have such examples of change? Something, from the temporary lockdown solutions, that can stay afterwards?

2 Gedanken zu „Minimalismus und Wirklichkeit

  1. Nein, Beispiele von Veränderungen kann ich nicht geben. Darf man auch mal müde werden vor Veränderungen, sie scheuen wie Störenfriede, jeden Gedanken einer Umstellung, Erneuerung verwerfen in der Sorge, eine gefundene Ruhe zu verlieren? Die einzige Veränderung, die ich mir erlaube, sind Grünpflanzen, die meine liebevolle Pflege nicht überstanden haben, gegen frisches Grüngewächs auszutauschen. Und nichts und niemand, auch kein lock-down, würden mich zu Veränderungen bewegen.
    Ich habe wieder voller Bewunderung Deine Gedanken zum Thema „Minimalismus und Wirklichkeit“
    gelesen, wie immer bereichernd. Danke.
    LG, Gerda

    1. Danke, liebe Gerda! Ja, natürlich darf man müde werden davon, da gab es schon genug Veränderungen über die Jahre, oder? Und letztendlich war die aktuelle Wohnung Veränderung genug und das auch nicht so lange her. Ich kenne aber viele Beispiele von jungen Familien, die plötzlich Arbeit-Kind-Hund-Privatsphäre-Freizeit-Onlineunterricht usw bändigen mussten, als das Chaos plötzlich in ihren Wohnungen ausbrach. Dadurch entstanden spontane Raum-Lösungen, die – glaube ich – jede Pandemie überstehen werden. LG!

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