Ich suche immer nach guten Orten und wenn ich an einem solchen Ort bin, stelle ich mir die Frage, warum? Was ist denn hier so besonders, welche Signale empfangen meine Antennen?
Im Herzen einer guten Küche bei meinen Freunden steht ein guter Tisch.
(Scroll down down down for the English summary)
In den unzähligen Rissen verstecken sich die winzigsten Krümel des Alltags. Pflegeleicht? Pustekuchen! Und das ist auch gut so. Die Oberfläche lebt, filigrane Schatten der Pflanzen dringen in die kleinsten Dellen ein, die strenge Projektion der Fenstersprossen gleitet täglich wie ein Scanner darüber.
Wer auf die Holzplatte seine Hand legt, spürt die Botschaft, die gleichzeitig mit Morsezeichen und Braille darin kodiert wurde.
150 Jahre alt, das Gestell aus Eiche und die Platte, wahrscheinlich jünger, aus Kiefernholz, mit Bierbeize behandelt. Ich erinnere mich auch an andere Behandlungen, an denen ich teilnehmen durfte, da war Wein und Single Malt im Spiel… Eine flackernde Kerze, keine Petroleumlampe, von links eine Zigarettenspitze, von rechts eine Pfeife. Immer eine gute eckige Runde, was jetzt sehr fehlt.
Spuren auf der Oberfläche erzählen Geschichten. Und tatsächlich gibt es Geschichten dazu, das unterscheidet ihn von vielen anderen auch guten und alten, die vom Flohmarkt oder Trödler kommen, die ihren Werdegang für sich behalten. Denn er gehört seit Generationen zur Familie. Es finden sich sogar Notizen, die es belegen, dass in der Zeit der Ururgroßeltern, als die Stube von einer Petroleum-Stehlampe erleuchtet war, der Tisch dem Zeichenunterricht diente. Angeblich hat man an jeder Seite des Tisches zusätzliche Platten, „Anstecker“ reingeschoben, um mehr Fläche zu haben und dann saßen dort junge Leute beim Zeichnen. Dazu leuchteten noch andere Petroleum-Hängelampen, mit grünen Blechschirmen.
Und noch ein Satz, den die Urgroßmutter schrieb: “Vor dem Sofa stand der alte Tisch, welchen wir jetzt noch in unserem Laden benutzen.” Also war er damals schon alt!
Diesen Beitrag, in dem der gute Tisch porträtiert wird, hatte ich schon lange vor. Der Plan war, dass ich spontan bei Freunden mit der Kamera auftauche, wenn die Sonne stark auf ihren Tisch scheint, mache meine Fotos, schreibe meinen Text dazu, fertig. So ist es diesmal aber nicht gekommen, in diesem Frühling ist alles anders, durch Corona, das Wort mit C. Aber diesen Tisch möchte ich jetzt, in der Osterzeit, unbedingt zeigen. Vielleicht als Symbol von einem Treffen, das nicht stattfinden kann?
Also veröffentliche ich hier zum ersten Mal Bilder, die nicht ich selbst gemacht habe (Alle Fotos: ©Pietrojorge). Ich mailte mein Wunschkonzert, einen Zettel mit einer gekritzelten „Storyboard“, als Plan, welche Aufnahmen ich machen wollte, und bekam tolle Fotos von den Freunden zugeschickt.
Auch zum ersten Mal erscheint hier ein Gedicht, denn es gibt eines, das diesem Tisch gewidmet wurde. Ich lasse Euch damit jetzt allein.
Auf einen Tisch
auf dem schon ein gewisser
keiner Nachwelt bekannter
Stubenmaler und Kunstlehrer
in einer Kleinstadt in Holstein vor 1900
seine Farben anrieb
für einen Trollwald (verschollen)
und eine Schlacht bei Hemmingstedt
und seine Zeichenstunden gab
auf dieses Stück
mit dem soliden Eichengestell
das wir ererbt
gestützt
zwischen Krümeln schreibend
in diebus nostris ach das Kalb
unter der großen Eiche auf der Morgenweide
trinkend am Euter der Mutter
und die Mutter putzt ihm den Hintern
(was für ein Bild)
auf dieser Platte die gebeizt ist
mit Bier und Bibelversen
milchsaurem Säuglingssabber
und wievielen Tränen
ein Karstgebiet
Muschelbänke einst und jetzt
gehen wir über die baumlose Ebene der Wind
führt uns übers wogenbleiche Feld da blühen
einige Farbreste auf in den Spalten
Steinbrech und Beinbrech
das Kalb nicht das Lamm
und nach der nächsten Sintflut
das Schwein und die Krähe
(ich weiß nicht warum)
Verleih uns Frieden
(Peter Piontek, “Aus dem Fliegenglas“, Wehrhahn Verlag, Hannover 2009.)